Das zweite Mal in diesem Frühling ist es am vergangenen Sonntag draußen wärmer als 20 Grad, die Bäume beginnen zu sprießen, die Sonne scheint und ganz Berlin befindet sich im Freien auf Grünflächen und an Gewässern. Ganz Berlin? Nein! Denn eine kleine Gruppe unbeugsamer Cineasten verschanzt sich an diesem schönen Frühlingstag über vier Stunden in einem alten Fabrikgebäude um sich zwei hammerharte Serienmörder-Filme anzusehen, bei denen jegliches Gefühl von aufkommender Gutwetter-Euphorie im Keim erstickt wird.
Am letzten Sonntag startete die zweite Staffel der Veranstaltungsreihe Pleasure Dome im Filmrauschpalast Moabit mit einem Double Feature der Filme Dr. Lamb (1992) und Henry: Portrait of a Serial Killer (1986). Die erste Pleasure Dome Edition setze im letzten Jahr den Maßstab: von Juli bis November waren stets an einem Sonntag im Monat Double Features gezeigt worden, darunter Filme wie Jörg Buttgereits Todesking (1990), der Slasher-Klassiker Maniac (1980) und 80er Erotik-Krimithriller Stripped to Kill (1987) und Stripped to Kill 2 (1989). Der Fokus von Zelluloid 42, dem Kollektiv, dass die Reihe organisiert und kuratiert, ist eindeutig bei Exploitation Filmen und B-Movies, gezeigt wird abseitiges und transgressives Kino, das aneckt. Das Programm erlabt sich an brutalen, abwegigen, erotischen und vergessenen Filmen, die seiner Zeit in den Grindhouse- und Autokinos liefen. Gewalt und Sex bilden den Kern des Pleasure Domes in Anlehnung an die Kinokultur der Siebziger und Achtziger, die die basalen Triebe der Kinogänger ansprach, für die die Filme, die heute im Filmrauschpalast gezeigt werden, original intendiert waren. Diese Art Filme zeichnen sich durch reißerische Thematiken, geschmacklose Herangehensweisen und explizite Darstellungen aus und tragen diese Eigenschaften mit stolzer Brust.

Die Projektion dieser Filme (sowie der sorgfältig ausgewählten Trailer-Vorschau, die das Programm abrundet), erfolgt ausnahmslos analog, jeder Film und Trailer wurde und wird von 35 oder 16mm projiziert. Dieser Umstand ist wichtiges Merkmal der Identität des Pleasure Dome: Einerseits ist der Griff zu analogem Film eine pragmatische Entscheidung, so sind viele der im Pleasure Dome präsentierten Filme nicht in hochauflösenden digitalen Versionen verfügbar, sodass es sich bei den analogen Kopien um die bestmögliche Seherfahrung handelt. Andererseits hat eine Vorführung von 16 oder 35mm Film eine völlig andere Textur als die Voführung einer DCP. Nicht nur trägt das Material in sich mehr Unebenheiten mit sich durch Korn und Laufstreifen, auch die handwerkliche Arbeit des Projektionisten bekommt einen besonderen Stellenwert. So mussten bei der Projektion von Left-Handed (1972) und Fire Island Fever (1978) die Filme mehrfach angehalten werden, um den Filmstreifen erneut einzufädeln, da diese aufgrund der Beschädigungen an der Perforation plötzlich ohne Ton weiterliefen. Auch die Recherche der Filmkopien und deren Zustand wird in den Vordergrund gerückt, so waren bspw. die zwei eben erwähnten Filme fünfzig Jahre alte Originalkopien und dementsprechend extrem verfärbt und durch sehr prominente Laufstreifen beschädigt. Die gezeigte Kopie von The Driller Killer (1979) wies in der letzten Rolle starke Wasserschäden auf, die die Seherfahrung entsprechend prägten. Die analoge Kinoerfahrung ist in der durchdigitalisierten Kinolandschaft Deutschlands eine rare Praxis geworden und findet im Einklang mit dem abhanden gekommenen Exploitation-Kino eine gesonderte Zelebration im Pleasure Dome.
Textur ist für den Pleasure Dome ein zentraler Aspekt, denn die Seherfahrung geht über die Filme und das Filmmaterial hinaus. Der Filmrauschpalast als Ort komplimentiert das Programm und den Grindhouse-Aspekt der Veranstaltung hervorragend. In den Mauern der ehemaligen Heeresschlachterei und späteren Keksfabrik mitten in Moabit wurden in den 90er Jahren die leerstehenden Räumlichkeiten von Kulturschaffenden besetzt und in einen Kinosaal umfunktioniert. Seitdem operiert der Filmrauschpalast in den seit Jahrzehnten kaum sanierten Räumlichkeiten, Industriecharme und Holzkohleofen inklusive. Die physisch raue Textur und die Geschichte des Hauses evozieren heruntergekommene Kinos der 42nd Street in New York, dem bekanntesten Hotspot für Exploitationkino in den USA, auf welche sich die Zahl im Namen des Kollektivs bezieht. Dazu kommt eine natürliche Affinität des Filmrausches und dessen Stammpublikums für B-Movies, die mit der langjährigen und stets ausverkauften Bahnhofskino-Reihe angefüttert und ausgebaut wurde. Der Fokus des Bahnhofskinos war jedoch viel mehr Party und Satire, es wurde massenhaft Alkohol konsumiert, reingerufen und viel gelacht, im Gegensatz dazu zielt Zelluloid 42 auf eine ehrliche Rekreation der Grindhouse-Erfahrung ab und fördert eine Atmosphäre, in der diese spezifische Art der Filmsichtung durch Programm und Spielstätte nachempfunden werden kann. Das inkludiert jegliches Promo-Material, dass sich an alten monochromen Fotokopie-Flyern mit reißerischen Schlagzeilen orientiert und die Immersion abrundet. Auch die Flyer verweisen stets auf die eigene Textur, sie sind Druckerzeugnisse mit Fehlern und Spuren des mehrfachen neu und abkopierens, die auch als Instagrambeitrag auf dem iPhone eine Haptik und Materialität forttragen.

Mit Dr. Lamb und Henry kehrt Pleasure Dome seit letztem Sonntag für einige Monate wieder zurück auf die Leinwand im Filmrauschpalast. Die Vorführung ist, wie üblich, ausverkauft, auch für die kommende Veranstaltung ist der Andrang groß. Im Mai veranstaltet Zelluloid 42 ein Sonderprogramm, bei dem sich der Pleasure Dome über ein ganzes Wochenende erstreckt. In Kooperation mit dem US-Label Vinegar Syndrome werden vom 16. bis 18. Mai acht Filme auch in Anwesenheit besonderer Gäste gezeigt, diese werden wie gewohnt von analog, aber erstmals auch in neu restaurierten DCPs vorgeführt werden. Es ist ein großer Schritt nach vorn für eine Veranstaltungsreihe, die bisher gerade einmal ein halbes Duzend Events auf die Beine gestellt hat, doch es beweist zweierlei Fakten: Das Publikum springt auf die Veranstaltung an, und Zelluloid 42 hat große Ambitionen, den Pleasure Dome zu erweitern und auszubauen.
Der Pleasure Dome ist eine enrome Bereicherung für die Berliner Kinolandschaft, eine derartige einmalige Kinoerfahrung hebt sich kuratorisch aber besonders auch texturell in vielen Aspekten extrem von dem regulären Kinoprogramm und den Specials der meisten Mainstream- und Programmkinos ab. Man kann sich nur wünschen, dass der Pleasure Dome lange erhalten bleibt und dass das Publikum auch in der zweiten Staffel und darüber hinaus sich einmal im Monat an einem Sonntag ins Kino setzt, um dort allerlei Schund und Abgründe des Kinos auf der Leinwand zu sehen.

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