Auf der Viennale hat sich für mich früh ein Thema herauskristallisiert, das viele gute Filme auf dem Festival vereint: die Reise. Es sind Filme, die Figuren zeigen, die sich auf einer Reise befinden, mal mit einem klaren Ziel vor Augen, mal eher ziellos.

Da wäre zum Beispiel der neue Film von Alexander Koberidze Dry Leaf. Hier erzählt er von einem Vater, der auf der Suche nach seiner Tochter einmal quer durch Georgien fährt. Da die Tochter Sportfotografin ist, vermutet er sie auf einem Fußballplatz. So wird der Film eine Reise quer durch ein Land hin zu immer obskureren Fußballplätzen, die teilweise einfach nur durch zwei Pfähle auf irgendeiner Wiese auszumachen sind. Der Fußball spielt also wie auch schon in What Do We See When We Look at the Sky eine große Rolle doch. Doch im Gegensatz zu diesem Film, geht Koberidze wieder zurück zum digitalen Look seines Debütfilms. Er kreiert hier durch seine unglaublich niedrig aufgelösten Bilder eine Art impressionistisches Kino. Ein Eindruck, der sich zudem dadurch aufdrängt, dass wir sehr viele, sehr schöne Sonnenuntergänge sehen. Es ist also ein Film, der viel mit farblichen Effekten und dessen Wirkung spielt, ein Film, der erfahren werden muss. Schnell wird außerdem klar, dass die gesuchte Tochter an keinem der Fußballplätze sein wird, und so wird diese Reise ein relativ zielloser Roadtrip, der einem mit seiner Atmosphäre in Beschlag nimmt, unterstützt auch durch den wirklich tollen und sehr präsenten Score. Man kann sich dann wirklich in diese Bilder fallen lassen, auch weil es sonst nicht viel gibt, dem man folgen müsste. Gesprochen wird nicht viel, meist wird nur nach dem Weg zum nächsten Fußballplatz gefragt. Ein wenig musste ich dabei an Kiarostamis And Life Goes On denken, auch in gewisser Weise ein Fußballfilm, aber vor allem auch ein Reisefilm.
Ebenfalls auf einer Reise begleiten wir die Figuren in Strange River, dem Debütfilm des katalanischen Regisseurs Jaume Claret Muxart. Der Film folgt einer fünfköpfigen Familie auf ihrem Bikepacking Trip entlang der Donau in Süddeutschland. Fahrradtour und Zelten: für mich ist das ja eine Horrorvorstellung, aber der Film schafft es tatsächlich die süddeutsche Landschaft extrem idyllisch aussehen zu lassen, was aber auch an den sehr farbintensiven analogen Bildern des Films liegt. Im Zentrum des Films steht Didac, ein 16-jähriger Junge. Während des Films sieht er immer wieder einen anderen Jungen und es scheint da ein Verlangen zu bestehen. Ganz gelungen ist dabei, dass es immer so ein bisschen im Unklaren bleibt, ob dieser andere Junge wirklich echt da ist oder nur eine Einbildung, oder eher, ein Traum. Zwischendrin hakt es ab und zu, was auch daran liegt, dass hier ein spanischer Regisseur teilweise deutsche Schauspieler inszeniert, was dann noch merkwürdiger klingt als manche Dialoge in deutschen Filmen, aber am Ende findet der Film wirklich zu sich. Besonders die Endsequenz ist in ihrer Eindrücklichkeit und Stimmung wirklich atemberaubend. Wie dort Musik eingesetzt wird, ist wirklich meisterhaft. Wer wie ich zudem einen soft-spot dafür hat, wenn Leute in Filmen Architektur erklären (wie beispielsweise in Columbus), wird hier auch auf seine kosten kommen.

Ganz ohne Musik erzeugt ein anderer Debütfilm seine Stimmung. Short Summer von Nastia Korkia nimmt uns mit aufs russische Land. Dort verbringt das kleine Mädchen Katya ihren Sommer bei ihren Großeltern. Ebenfalls auf Film gedreht, erzählt dieser Film mit einer großen Langsamkeit. Lange Einstellungen und wenig Bewegung, sowie wirklich keine Musik transportieren das ganz langsame Tempo dieser Jahreszeit, besonders, wenn man als Kind kaum große Ablenkungen um sich herum hat. So wird viel herumgelegen, mit Sonnenreflektionen gespielt und mit Steinen geworfen. Doch mit der Zeit wird klar, dass auch dieser Sommer nicht so unbeschwert ist, wie es vielleicht aus dem naiven Blick eines Kinds erscheinen mag. Ein verstörter Soldat terrorisiert die Gegend, Russland führt Krieg in Tschetschenien (der Film spielt in den 2000er-Jahren) und Oma und Opa lassen sich scheiden. All das kriegen wir zunächst wirklich nur am Rande mit, etwa durch die Nachrichten im Radio, oder Dingen, die wirklich nur im Hintergrund passieren, wie etwa ein Zug voller Panzer, der durch den Bildhintergrund fährt. Doch irgendwann kommt das Unheil wortwörtlich durch die Haustür. Der Film lässt ein wenig offen was dann passiert, aber die Botschaft ist klar: die Außenwelt lässt sich nicht ignorieren, auch wenn Urlaub ist. In diesem Sinne erinnert der Film dann sogar etwas an Roter Himmel von Christian Petzold.

Ebenfalls in Wien lief der Locarno Gewinnerfilm Two Seasons, Two Strangers von Sho Miyake. Miyake mit seinem vorherigen Film All the Long Nights das stille Highlight der Berlinale im letzten Jahr. Kaum ein anderer kann so empathisch Außenseiterfiguren erzählen wie er. Das macht er in seinem neuen Film auch wieder, aber erhöht gleichzeitig die Komplexität seiner Erzählung. Der Film besteht aus zwei Teilen. Der erste ist ein Film im Film und spielt im Sommer an der Küste in Japan. Zwei Fremde begegnen sich, freunden sich an und spazieren durch die Landschaft. Man denkt dabei zwangsweise an Filme wie Sommer von Éric Rohmer. Dann im zweiten Teil begibt sich die Drehbuchautorin des Films im Film auf einen winterlichen Ausflug. Im Schneegestöber sucht sie nach einer Unterkunft irgendwo im japanischen Hinterland. Dort lernt sie dann einen schrulligen alten Mann kennen. Zunächst scheinen sie gar nicht miteinander zu harmonieren, doch es entwickelt sich dann doch eine Verbindung. Sho Miyake erzählt in Two Seasons, Two Strangers einmal mehr von Menschen, die zueinander finden. Auch wenn mich der zweite Teil des Films mit seiner Ruhe zeitweise etwas verloren hat, zeigt sich doch wie viel Potenzial in diesem Regisseur steckt. Mit dieser erfrischenden Art zu erzählen, dürfte der ganz große Durchbruch nicht mehr weit entfernt sein.

Zum Abschluss sei noch der neue Film von einem alten Meister erwähnt: Werner Herzogs Ghost Elephants. Wir begeben uns hier zusammen mit Herzog auf eine Reise ins angolanische Hochland und folgen dem Naturforscher Steve Boyes. Der hat ein klares Ziel vor Augen. Er will die sagenumwobenen Ghost Elephants finden. Das sind außergewöhnlich große Elefanten, die nur in diesem Gebiet leben sollen. Doch Herzog interessiert sich gar nicht so sehr für die Elefanten, sondern vielmehr dafür, was diesen Mann antreibt. Auf dieser Reise hat Herzog auch immer ein großes Interesse für die Menschen vor Ort und es ist einmal mehr faszinierend was für Charaktere er immer ausgräbt. Es ist aber eine Reise mit einem klaren Ziel und der Frage, was passiert, wenn dieses Ziel erreicht ist. Wenn der Traum nicht mehr Traum, sondern Wirklichkeit geworden ist. Ist man dann erfüllt, oder ist dann da, wo mal der persönliche Antrieb war auf einmal eine große Leere? „He will have to live with his success“ sagt Werner Herzog in seinem unverkennbaren Ton irgendwann. Das ist wahrscheinlich der Schlüsselsatz des Films. Vielleicht sollten manche Träume auch lieber Träume bleiben. Nicht jede Reise sollte man also unternehmen. Das sich auf dem Weg dennoch viel finden lässt, zeigen die Filme auf der Viennale.

Hinterlasse einen Kommentar