Am Samstag endete einmal mehr das Around the World in 14 Films-Festival, dass in diesem Jahr sein 20-jähriges Jubiläum feiern durfte. Seit 2006 unter der Leitung von Bernhard Karl laufen in den Berliner Kinos die Favoriten aus der vorgegangen Festivalsaison: Filme aus Venedig, Locarno, Cannes und vielen anderen internationalen Filmfestivals stellen das Programm bestehend aus 14 Filmen (und einigen Specials), die das Publikum einmal um die Welt begleiten. Auch in diesem Jahr stammen die Filme des Programms aus verschiedensten Ecken des Globus, und doch lassen sich wieder Schwerpunkte herauskristallisieren, die verschiedenste Kulturen verbinden. Ein zentrales Thema, dass meine persönliche Filmauswahl beim 14 Films dieses Jahr stark geprägt hat, ist die Suche nach und Rekonfiguration von sozialen und persönlichen Anknüpfungspunkten. In mehreren Filmen im Programm versuchen die Hauptfiguren, neue Kontakte herzustellen oder bestehende Beziehungen neu auszulegen und zu verhandeln.

Am deutlichsten geschieht dies vielleicht in Ildikó Enyedis Stille Freundin, der die Geschichten dreier Menschen erzählt, die zu verschiedenen Zeitpunkten (1908, 1972 und 2020) an der Uni Marburg studieren und dort einem alten, großgewachsenen und massiven Fächerblattbaum begegnen. Dieser Baum, die titelgebende Stille Freundin, initiiert in den drei Figuren eine Suche nach Verbundenheit und Nähe, die sich nicht nur auf andere Menschen beschränkt, sondern auch das Pflanzenreich mit einbezieht. So verliebt sich 1972 der Student Hannes (Enzo Brumm) in seine Mitbewohnerin Gundula (Marlene Burow), baut jedoch eine viel engere Beziehung mit ihrer Geranie auf, die er für sie pflegen soll, als mit ihr. Enyedi demokratisiert alle Lebensformen in diesem Film: Jegliche Flora auf der Leinwand ist ebenbürtig mit den menschlichen Darstellenden und ist genauso in der Lage Emotionen wahrzunehmen, wie sie auch zu abzubilden. Mit metaphysischen und magischen Zwischenschüben stellt der Film die inneren Regungen verschiedenster Pflanzen dar, die in ihrer filmischen Darstellung selten diese Ehre bekommen. Das Thema der Verbundenheit wird in dem Handlungsstrang, der während den Anfängen der Pandemie 2020 spielt, am klarsten dargestellt. Der frisch aus Hong Kong angereiste neue Gastprofessor, gespielt von Tony Leung, sieht sich nach Beginn des Lockdowns allein in einer leeren Universität gestrandet. Fasziniert von dem enormen Fächerblattbaum beginnt er über Zoom eine Kollaboration mit einer in Paris lebenden Wissenschaftlerin (Léa Seydoux), um die kognitive und emotionale Wahrnehmungsfähigkeit des Baums zu erforschen. Gleichzeitig muss er den mürrischen Gärtner navigieren, der Leungs Experimente in seinem Garten nicht gutheißt. Enyedi plädiert mit diesem Film liebevoll für ein empathisches Miteinander und ein Mit-der-Natur, das in Zeiten von Abgrenzung das wichtigste Gut darstellt.
Auch Dry Leaf und Two Seasons, Two Strangers sind Teil des 14-Films Programms, zwei Filme die wir auf der Viennale schon sehen konnten und dort zu unseren Favoriten gehörten und über die Yannick an anderer Stelle schon geschrieben hat. Beide Filme teilen die Sehnsucht nach menschlichen Kontakt: In Dry Leaf sucht ein Vater seine ausgerissene Tochter im ländlichen Georgien und in Two Seasons, Two Strangers begegnen zwei Einzelgänger jeweils im Sommer und im Winter einem Menschen, zu dem sie unverhofft eine enge Bindung aufbauen. Wie Stille Freundin auch zeichnen sich diese Filme durch eine tiefe Ruhe und Unaufgeregtheit aus, die die Erzählweise und die Inszenierung durchzieht. Auch in Miyakes und Koberdizes Filmen spielen Umgebungen und Kontexte eine wichtige Rolle, ihre Protagonisten exisitieren stets als Teil eines gesellschaftlichen und ökologischen Geflechts, dass die Atmosphäre des Films stark bestimmt.

Ein weiteres Highlight des Festivals war Maryam Touzanis Film Calle Malaga, mit der fulminanten Carmen Maura in der Hauptrolle, die dem Publikum aus Pedro Almodovars größten Hits bekannt sein sollte. Nachdem Marías (Maura) Tochter Clara (Marta Etura) ihr plötzlich ankündigt, die Wohnung verkaufen zu müssen, in der María ihr ganzes Leben verbracht hat, sieht sich die 79-jährige Witwe gezwungen, kreativ zu werden. Die gebürtige Spanierin ist Teil der großen spanischen Community in Tanger, die seit den 1930ern in der marokkanischen Stadt verwurzelt ist. Nach Marías geheimen Flucht aus dem Altersheim, in dass Clara sie untergebracht hatte, besetzt sie nun ihre ehemalige leerstehende Wohnung, die Möbel hat ihre Tochter aus Geldnot ebenfalls verkauft. Touzani baut hier ein interessantes Spannungsverhältnis auf: María sieht sich von Clara hintergangen, die jedoch selbst nur aus Verzweiflung handelt, denn als alleinerziehende Mutter kann sie sich durch ihre Tätigkeit als Krankenschwester nicht mehr finanzieren. Während der Besetzung ihrer eigenen Wohnung wird María von ihrem Umfeld aufgefangen, Nachbarn, Freunde und lokale Ladenbesitzer unterstützen die Pensionärin in einer Zeit, in der ihre eigene Tochter ihr die Lebensgrundlage entzieht. Im gleichen Zeitraum lernt María Abslam kennen, den alleinstehenden Anitquitätenhändler, dem Clara die Möbel ihrer Mutter verkauft hatte. Sie kommen sich näher und beginnen eine Beziehung. Maryam Touzanis Darstellung dieser Frau in ihren Siebzigern ist durchweg würdevoll und zärtlich, ihre Probleme und Wünsche haben Tragweite und bilden den emotionalen Kern des Films. Der Schmerz über den Verrat ihrer Tochter führt María nur zu neuem Glück, der Abriss einer Verbindung öffnet die Tür für andere. Auch hier wird die Wichtigkeit der Unterstützung einzelner Personen durch das Kollektiv und der Wert zwischenmenschlicher Nähe stark betont, auf wunderbar sachte Art und Weise.

Der einzige Tiefpunkt des Festivals war der ägyptische Beitrag Aisha can’t fly away, der in der Sektion Un Certain Regard in Cannes Premiere feierte. Der Vor- und Abspann des Films listet eine absurde Menge an Fördertöpfen, an denen sich dieser Film bedient hat, jedoch hat der Film trotz (oder vielleicht wegen) der der tausend Beisteurer leider nicht eine einzige originelle Idee. Aisha (Buliana Simon Arop), eine sudanesische Geflüchtete in Kairo, verdient sich ihren mageren Unterhalt als Altenpflegerin. Sie ist gezwungen, mit einer lokalen Gang zusammen zu arbeiten, in dem sie die Hausschlüssel der Menschen, bei denen sie arbeitet, kopieren lässt und diese später ausgeraubt werden. Aisha wird in ihrer Arbeit zu einem älteren Mann transferiert, der sie sexuell bedrängt. Der Film zeigt ihr Dasein als völlige Monotonie, selbst ihr einziger Lichtblick, die Treffen mit einem befreundetem Koch, der ein Liebespartner sein soll, ist kalt und leblos inszeniert. Zunehmend bemerkt Aisha einen sonderbaren Ausschlag an ihrem Bauch und beginnt immer öfter, einen Strauß zu halluzinieren. Aisha can’t fly away ist reiner Misery Porn, der Film erlabt sich durchweg an der miserablen Situation seiner Hauptfigur und sucht stets nach Wegen, ihre Lage weiter zu verschlechtern. Dabei bedient sich Regisseur Murad Mustafa an den simpelsten Klischees: Frauenfeindliche, erpresserische Drogen-Gangs, herzlose Chefs, rassistische, sexistische und übergriffige Kunden. Das größte Problem ist jedoch, das Aisha selbst keinerlei Charakterisierung zu teil wird, sie bleibt eine vollständig emotionslose, wortkarge Nicht-Figur, die das Leid still erträgt, aber selbst keine Art von Träume, Wünsche, oder Persönlichkeit hat. Mustafa ist offensichtlich überhaupt nicht an seiner Hauptfigur interessiert, sondern will sie nur weiter und weiter degradieren und erniedrigen. Im Verlauf des Films wachsen Aisha kleine Federn, sie scheint sich in den Strauß zu verwandeln, den sie immer wieder auf der Straße erblickt, jedoch wirkt die Metapher zu halbherzig eingeworfen und zu unterentwickelt, als dass es das Narrativ in irgendeiner Form bereichern würde. Aisha kann nicht fortfliegen, weil sie zu einem Strauß wird? Ernsthaft? Über 130 Minuten streckt sich dieser nicht enden wollende Film, den sich nach diesem Paragraphen auch wirklich niemand mehr angucken sollte.

Ebenfalls Teil des 14 Films waren gleich drei Filme über das Filmemachen und das Kino selbst: Nouvelle Vague von Richard Linklater, Resurrection von Bi Gan und Dracula von Radu Jude. Linklaters Film ist eine leichtfüßige und unterhaltsame Homage an den Dreh von Jean-Luc Godards Klassiker Außer Atem von 1960, die jedoch etwas Wikipedia-Artikel-Charakter hat. Die Liste der Gastauftritte ist lang und die der Anspielungen und Referenzen zu anderen Personen und Filmen der Nouvelle Vague noch länger, allerdings ist das alles für Menschen, die sich mit dem Thema eingängiger auseinandergesetzt haben, nicht wirklich neu. Ein wenig fragt man sich am Ende, ob es diesen Film wirklich braucht, aber sich darüber ärgern, dass es ihn gibt, wird niemand. Bi Gan holt mit Resurrection viel weiter aus und versucht in 150 Minuten einen Komplettabriss der vollständigen chinesischen Filmgeschichte abzubilden, vom Stummfilm bis hin zum Wechsel des Milleniums im Jahr 1999. Dazu unterteilt er den Film in einzelne Episoden und spielt mit verschiedenen Filmstilen, die unterschiedliche Epochen in Chinas Kinogeschichte darstellen. Der episodische Charakter hinterlässt einen eher zerklüfteten Film, bei dem sich die einzelnen Teile nur geringfügig zu einem vollwertigen Ganzen zusammenfügen und selbst für sich kaum stehen können. Lediglich das letzte Segment, dass in einem sehr beeindruckendem One-Shot gedreht ist, fühlte sich abgerundet und atmosphärisch stimmig an. Statt in die Vergangenheit zu blicken richtet Radu Jude hingegen den Blick auf aktuellste Entwicklungen und denkt über den Einsatz von KI im Kino nach. In seinem neuesten Film will ein Filmregisseur einen Dracula-Film machen, und befragt dazu die Künstliche Intelligenz um Hilfe. Diese generiert den Großteil der folgenden Szenen und weist einerseits die Möglichkeiten aber auch die Limitierungen der Technologie auf. Die Resultate sind in Judes typischer Manier obszön, vulgär, sarkastisch, kritisch, theoretisch und politisch. Mit viel Biss, Nuance aber auch krudem Humor bombardiert Jude das Publikum über 170 Minuten mit einem Feuerwerk an Ideen, Witzen und Vulgaritäten, von denen sicher nicht alles, aber vieles beim Zuschauer bleiben wird.

Das 14 Films-Festival beweist dieses Jahr erneut, dass es am Puls der Zeit ist, und einige der interessantesten und spannendsten Filme des Jahres zeigt. Die 20. Jubiläumsausgabe hat einen neuen Besucherrekord aufgestellt, und es bleibt nur zu hoffen, dass er nächstes Jahr wieder übertroffen wird.

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