Wie zeigt man als neue Festivalleitung am besten, dass man etwas verändern möchte? Wie gibt man dem Programm einen eigenen Anstrich? Man gründet eine neue Festivalsektion! Das war schon bei Carlo Chatrian so, als er angetreten ist und Encounters eingeführt hat und so ist es bei Tricia Tuttle nun auch. Sie sägte Encounters nach nur fünf Jahren direkt wieder ab, geblieben ist nur die orangene Farbe im Programm, und führte mit Perspectives einen neuen Wettbewerb ein. Auschließlich Debütfilme laufen hier. Doch was wollen sie erzählen? Was für Perspektiven auf die nächste Generation von Filmemacher*innen werden hier eröffnet? In den letzten Tagen konnte ich einige Perspectives-Filme sehen, Zeit für ein erstes Fazit.

Los ging es mit „Kaj ti je deklica“ (Little Trouble Girls) von der slowenischen Regisseurin Urška Djukić. Sie erzählt die Geschichte einer 16-jährigen Schülerin, die in einer katholischen Schule anfängt, sich selbst und ihre Sexualität zu entdecken. Sie ist auch Teil eines Mädchenchors und die Lieder, die sie da singen, legen sich oft mit so einer typisch katholischen Imposanz über die Bilder. Sie erdrücken sie teils, so wie die katholische Frömmigkeit und die damit verbundene Scham vor der eigenen Sexualität auf die Protagonisten einwirken. Das klingt zunächst nach einer Geschichte, wie man sie eigentlich oft genug erzählt bekommen hat, aber immer wenn man glaubt, dass der Film in irgendeine erwartbare Richtung kippt, nimmt er eine andere Abzweigung. Inszeniert ist das alles in der Form von vielen Close-Ups und auch das Sound-Design ist immens wichtig hier. Es ist ein sehr introspektiver Film, nach innen auf die Hauptfigur Lucija gerichtet, immer nah an ihr dran. Ab und an kommt der Film dann aus sich heraus, und dann werden die Bilder sehr symbolisch. Das Motiv der Blume taucht oft auf. Besonders im Gedächtnis bleiben die Chorszenen, mit dem fordernden Chorlehrer. Ein Hauch von Whiplash weht dann durch den Film. Doch er hütet sich davor, so etwas wie eine Missbrauchsgeschichte zu erzählen – zum Glück. Andere Bilder die bleiben, sind Männer, die in Flüssen baden und eine sehr intime, aber nicht explizite Masturbationsszene. Denn am Ende ist es eine Entdeckungs- und Befreiungsgeschichte mit sehr starkem Ende. Ich war wirklich überrascht von dem Film und am Ende geradezu euphorisch. Es war eine echte Entdeckung. Und wenn jeder Film so wird, dann kann diese Sektion ein echter Hit sein.
Das hat sich in den nächsten zwei Beiträgen aber leider nicht so fortgesetzt, dennoch haben sich aber erste Themen ergeben, von denen viele Filme in der Sektion geprägt sind. So stehen oft junge Menschen und Familien im Zentrum, Coming-of-Age ist das Stichwort. Im ungarischen Film „Minden Rendben“ von Bálint Dániel Sós zum Beispiel geht es um einen Jungen, der bei einer Geburtstagsfeier ein Mädchen mutmaßlich in einen Pool schubst. Das Wort mutmaßlich steht hier wirklich im Mittelpunkt, denn am Ende geht es um die Frage, ob er sie wirklich geschubst hat, oder ob sein Vater das einfach annimmt. Leider hat der Film abseits seines Dilemmas nicht viel mehr zu bieten. Alles erzählt in grauen schwarz-weiß Bildern kommt keine wirkliche Spannung auf. Am Ende gibt es dann noch einen Twist, bei dem man sich fragt, warum er so spät kommt, denn genau daraus hätten sich die wirklich interessanten Konsequenzen abgeleitet. Ähnlich verhält es sich mit dem mexikanischen Film „El Diablo Fuma“ von Ernesto Martínez Bucio, in dessen Zentrum eine Familie steht, wobei die Eltern auffallend abwesend sind und die Kinder alleine mit ihrer Oma das Haus bewohnen. Der 12-jährige Junge muss die Funktion des Familienoberhaupts einnehmen. Auch hier ist das Problem, dass sich der Film lange nirgendwo hin bewegt. Er tritt auf der Stelle. Erst am Ende setzen sich Dinge in Bewegung und er beginnt Antworten zu geben. Dann wird er auch interessant, aber eben leider viel zu spät.

Auch die zwei deutschsprachigen Filme im Programm drehen sich um junge Leute. In „How to Be Normal and the Oddness of the Other World“ von Florian Pochlatko geht es um eine junge Wienerin (gespielt von Luisa-Céline Gaffron), die starke psychische Probleme hat und irgendwann in eine krasse Psychose abdriftet. Das ist inszeniert wie eine Netflix-Serie, wild und poppig schnell geschnitten. Oft auch ziemlich witzig, aber so richtig zusammen geht es am Ende nicht. Der deutsche Beitrag „Mit der Faust in die Welt schlagen“ dagegen ist ein echter Höhepunkt. Im Zentrum steht wieder mal eine Familie, aber in den Nullerjahren irgendwo bei Hoyerswerder. Es sind die typischen Probleme der Zeit: Strukturwandel im Osten, die Arbeitsplätze fallen weg, weil die Unternehmen merken, dass die Polen die Arbeit für noch weniger Geld machen, Ehen gehen zu Bruch und in der Mitte davon stehen zwei Brüder, an denen die Regisseurin Constanze Klaue die große Gesellschaftsfrage verhandelt, wie es dazu kommen konnte, dass der Osten so dermaßen vom Rechtsextremismus dominiert wird und warum 2015 auf einmal wieder Flüchtlingsheime brennen. Kurz gesagt: das ist einer der klügsten Filme über Ostdeutschland, die das deutsche Kino bisher hervorgebracht hat. Es beginnt mit Hakenkreuz Schmierereien in der Schule, Judenwitzen, „schwul“ als Beleidigung und entwickelt sich dann zu handfestem Rechtsextremismus, weil auf dem Land sonst nichts anderes da ist. Diese bitteren Wahrheiten zeigt der Film sehr eindrücklich. Constanze Klaue bewegt sich dabei stilistisch so ein wenig auf den Spuren von Regisseurinnen wie Valeska Griesebach, vor allem was den authentischen Realismus des Films angeht. Der Osten sieht hier aus, wie der Osten aussieht und nicht, wie ihn sich beispielsweise ein Andreas Dresen vorgestellt hat. Nur ist der Film in seiner politischen Aussage deutlich expliziter als es Filme wie Sehnsucht oder auch Western sind.
Und dann noch die Entdeckung des Festivals bisher: Le rendez-vous de l’été von Valentine Cadic. Sommer, Paris, Olympische Spiele – das ist das Setting des Films, durch das die Hauptfigur Blandine wandert. Sie will zu den Schwimmwettbewerben, aber kommt nicht rein, dann besucht sie ihre Halbschwester, die sie seit 10 Jahren nicht gesehen hat. Begegnet anderen Menschen, lässt sich treiben und verarbeitet auch noch eine Trennung. Das ist Kino wie es sein soll. In der Art der Erzählung erinnert es an die Filme von Hong Sang-soo, auch der situative Humor, aber es ist inszeniert mit der Wärme eines Mikhaël Hers. Warme und von Sonne durchflutete Bilder prägen den Film, unterlegt mit einer sanften Musik. Und irgendwo schläft da natürlich auch immer der Geist von Éric Rohmer drin. Es ist die Art von Sommerfilm, wie ihn wirklich nur die Franzosen drehen können.

Was bei diesen ersten Perspectives auffällt, ist, dass sie schon eher typische Themen für Debütfilme verhandeln: junge Menschen stehen im Fokus und oft werden Coming-of-Age Geschichten erzählt und das oft in unter 90 Minuten – dankbar auf einem Festival. Die filmischen Vorbilder, an denen sich orientiert wird, sind häufig klar zu erkennen und einige Filme machen Lust auf mehr. Denn die Sektion Perspectives ist natürlich eine Investition in die Zukunft. Dass die jungen Stimmen, die wir hier sehen dann in zwei-drei Jahren mit ihrem nächsten Film wieder da sind und nun vielleicht im Wettbewerb laufen. Einigen wäre das sicherlich zuzutrauen, was aber auch heißt, dass sich der in die Sektion eingezahlte Preis so wirklich erst in ein paar Jahren zeigen wird, wenn wir die Regisseur*innen hoffentlich wieder sehen.
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